Interview: „Abrechnungsdaten fehlt die medizinische Tiefe“

Deutschland soll bei der Forschung mit Routinedaten vorankommen. Der Versorgungsforscher Ingo Meyer plädiert auch für Vielfalt statt Monokultur bei den Datenquellen.

INGO MEYER leitet seit März 2019 die PMV forschungsgruppe an der Universität zu Köln. Zuvor war er Abteilungsleiter Gesundheits- und Versorgungsmanagement bei der Gesundes Kinzigtal GmbH und davor 14 Jahre lang Senior Research Consultant bei empirica.

Wofür eignet sich die Forschung mit Routinedaten besonders gut?

Solche Daten sind immer dann besonders stark, wenn es um ganze Gruppen von Menschen geht. Beispielsweise bei MS, ein aktuelles Thema bei uns im Rahmen eines Innovationsfondsprojekts. Wie sind diese Patientinnen und Patienten versorgt? Wie viele lassen sich impfen, und gibt es da Unterschiede hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit? Anderes Beispiel: Palliativversorgung. Wie viele Menschen in ihrem letzten Lebensjahr bekommen Palliativversorgung? Beginnt diese früh oder erst ganz kurz vor dem Tod? Das sind typische Fragen. Spannend ist außerdem, Versorgungsdaten mit anderen Datenquellen zu verknüpfen. Auch dazu ein Beispiel: Wir untersuchen derzeit zusammen mit der Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Köln die Rolle von Hitzewellen in der Arzneimitteltherapie. Dazu verknüpfen wir Abrechnungsdaten der Krankenkassen für die Stadt Köln mit Daten des Deutschen Wetterdienstes. So können wir uns bei Menschen, die hitzesensitive Medikamente nehmen, ansehen, was genau zum Beispiel während einer Hitzewelle im Sommer mit tropischen Nächten passiert oder nicht passiert ist.

Sie forschen vor allem mit Abrechnungsdaten von Krankenkassen. Wo sind die Grenzen dieser Art von Daten?

Routinedaten der GKV werden dann schwächer, wenn es darum geht, in konkrete medizinische Fragen einzusteigen. Wenn ich eigentlich Laborwerte oder Blutdruckwerte brauche, um etwas zu verstehen, komme ich an Grenzen. Hier sind wir dann auf die Verknüpfung mit anderen Datenquellen angewiesen, sofern das möglich ist.

Stichwort Verknüpfung von Datensätzen. Hier soll das neue Forschungsdatenzentrum, das FDZ, am BfArM helfen. Es soll nicht nur unterschiedliche Quellen für Abrechnungsdaten zusammenbringen, sondern diese auch (geplant) Mitte 2025 mit freiwillig gespendeten Daten aus den neuen elektronischen Patientenakten verknüpfen, außerdem mit Daten aus den klinischen Krebsregistern und perspektivisch noch weiteren Registern. Ist das der richtige Weg?

Auf jeden Fall richtig. Das ist ja auch eine Lektion aus der Pandemie, und es ist wirklich überfällig – ein wichtiger Schritt nach vorn, wenn es dann startet. Bisher arbeiten wir überwiegend mit Daten einzelner Krankenkassen. Durch das FDZ können wir auf die Daten von viel mehr Menschen schauen. Dadurch werden gerade bei selteneren Erkrankungen Auswertungen möglich, die bisher nicht möglich waren.

Was bringt konkret die im FDZ künftig mögliche Ergänzung der Abrechnungsdaten durch die ePA-Daten?

Abrechnungsdaten fehlt die medizinische Tiefe. Wenn ich in die Krankheitsschwere oder auch in individuelle Verläufe von Erkrankungen einsteigen will, dann brauche ich häufig zusätzliche Informationen. Die ePA ist hier eine mögliche Datenquelle, die solche Informationen liefern kann. Auch für Dinge, die wir im weitesten Sinne als Patient-Reported Outcomes bezeichnen, kann die ePA eine Quelle werden. Die Einschränkung ergibt sich aus der Freiwilligkeit. Versicherte können dem Datentransfer aus der ePA ins FDZ widersprechen. Da stellt sich natürlich die Frage: Wie viel Opt-out wird es geben? Und was ist die Systematik hinter denen, die sagen, sie wollen das nicht? Da sind wir in der Community alle ein bisschen gespannt. Wenn bestimmte Gruppen systematisch sagen würden, dass sie keine ePA-Forschung wollen, dann würden wir diese Gruppen für die Forschung verlieren.

Wo sind aus Ihrer Sicht die Grenzen der Forschung per FDZ? Für welche Arten von Fragestellungen sind andere Quellen – insbesondere Daten aus Krankenhäusern oder aus Praxissoftwarelösungen – besser geeignet?

Ich bin sicher, dass im Rahmen der klinischen Forschung sehr viel mehr Wert auf primäre Behandlungsdaten gelegt wird, also auf Daten, wie sie in Klinikinformationssystemen oder Praxissoftware anfallen. Die individuelle Behandlung durch Ärztinnen und Ärzte systematisch analysieren – das wird auch ein künftiges FDZ nur begrenzt leisten können. Ein anderer Bereich ist die KI-Entwicklung. Wenn es darum geht, auf individueller Ebene bestimmte Ereignisse zu prädizieren, dann braucht es die Reichhaltigkeit klinischer Daten. Denn sonst scheitere ich an Sachen wie Schweregrad, genauem klinischem Verlauf oder genauem Therapieverlauf. Die Modelle laufen dann Gefahr, zu unscharf und entsprechend nicht nützlich genug zu werden.

Auch in Deutschland entsteht langsam eine Art Markt für anonymisierte und pseudonymisierte Patientendatensätze. Wie beurteilen Sie diesen Trend, der in anderen Ländern ja teils schon viel weiter fortgeschritten ist?

Es ist grundsätzlich richtig, dass wir Daten stärker nutzen, um das Gesundheitswesen besser zu machen. Und dabei geht es nicht nur um die Versorgungsforschung im engeren Sinne. Was die Vielfalt angeht, sehe ich das sehr pragmatisch und grundsätzlich positiv, sofern gewährleistet ist, dass die datenschutzrechtlichen Regularien eingehalten werden.