Gesundheitspolitik: Der Plan steht

In Sachen Gesundheitspolitik hat sich die schwarz-rote Koalition in den ersten Regierungsmonaten in Zurückhaltung geübt – von Notfallinterventionen zur Rettung der GKV-Finanzen einmal abgesehen. Zu lange darf die Pause nicht dauern: E-Health-politisch besteht an einigen Ecken Handlungsbedarf.

Von Phillip Grätzel

Rund 100 Tage nach Antritt der neuen Bundesregierung gibt es bei der Gesundheits- und Digitalpolitik mehr Fragezeichen als eindeutige Wegweiser. Sicher, eine der ersten Amtshandlungen von Schwarz-Rot war die Stabilisierung des Gesundheitsfonds. Dazu gab es aber auch keine Alternative. Darüber hinaus orientieren sich alle, denen die Zukunft des Gesundheitswesens am Herzen liegt, an einer 144 Seiten starken Absichtserklärung: „Das steht doch so im Koalitionsvertrag“ – das ist im Juli 2025 immer noch der häufigste gesundheitspolitische Satz im Berliner Regierungsviertel. 

Dass sich die neue Regierung gesundheitspolitisch schwertut, hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass Gesundheitsministerin Nina Warken, CDU, keine Gesundheitspolitikerin ist. Sie muss sich einarbeiten. Dazu gehört auch die personelle Ausgestaltung des Ministeriums. Der für die E-Health-Politik entscheidende Posten ist die Leitung der Abteilung Digitalisierung und Innovation – ein Posten, den in den vergangenen Jahren Dr. Susanne Ozegowski innehatte. Ob das so bleibt, ist offen, Ozegowski ist in Elternzeit. 

Die gesundheitspolitische Großwetterlage 

Als x.press-Magazin interessiert uns primär die E-Health-Politik, aber die bewegt sich natürlich nicht im luftleeren Raum. Drei wesentliche Rahmenbedingungen werden die neue Legislaturperiode gesundheitspolitisch prägen. Eine davon hat sich niemand ausgesucht, nämlich die weiterhin sehr angespannte Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Fragt man Menschen, die schon länger in der Gesundheitspolitik unterwegs sind, dann gehen die wahlweise 20 oder auch 30 Jahre zurück, wenn nach Referenzperioden für die aktuelle Situation gefragt wird. 

Vor gut 30 Jahren gab es unter Gesundheitsminister Horst ­Seehofer, CSU, die bisher größte Gesundheits- und Finanzierungsreform im deutschen Gesundheitswesen, das Gesundheitsstrukturgesetz. Es brachte Budgetierungen und vielfältige Zuzahlungen und prägt das deutsche Gesundheitswesen bis heute. Genug war es nicht: Vor 20 Jahren war es Ulla Schmidt, SPD, die erneut handeln musste. Das war die Zeit der Herausnahme weiter Teile des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog, die Zeit der Praxisgebühr und der Gründung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in seiner heutigen Form. 

Interview: Von der Technologie- zur Versorgungsperspektive

Die gematik hat mit einer neuen Geschäftsführung während des Regierungswechsels den ePA-Rollout auf den Weg gebracht. Dr. Florian Fuhrmann erläutert im Interview die künftige Arbeitsweise und Ausrichtung der für die Telematikinfrastruktur zuständigen Gesellschaft.

Hier geht's zum Interview.

Chaos bei der Telemedizin

Es ist weitgehend unstrittig, dass sowohl Krankenhausreform als auch Primärarztsystem, mit oder ohne investorenbetriebene MVZ, nur dann Erfolgschancen haben, wenn sie mit digitalen Infrastrukturen und Prozessen hinterlegt werden. Bei der Krankenhausreform geht es dabei um Telekonsile, beim Primärarztsystem um Digital-First-Szenarien durch Einsatz von digitalen Assistenzsystemen wie Videosprechstunden und asynchroner Telemedizin. Aus Versorgungssicht ist der Bereich Telemedizin dann auch eine wichtige E-Health-politische Baustelle, die Schwarz-Rot politisch beackern muss. Doch hier herrscht Chaos. Im stationären Bereich enthält die Krankenhaustransformationsfonds-Verordnung (KHTF) zwar in § 3 Absatz 3 die explizite Aufforderung an die Krankenhäuser, (auch) Anträge auf telemedizinische Netzwerkstrukturen zu stellen. 

Gleichzeitig werden Telekonsilnetzwerke dort, wo sie politisch initiiert wurden, aber eher wieder zurückgefahren. Ein Beispiel ist Nordrhein-Westfalen, wo die Landesregierung das lange als Erfolg zelebrierte Virtuelle Krankenhaus ad hoc beerdigte. „Wir sehen die Gefahr, dass das KHTF-Geld für die reine Umgestaltung des Status quo genutzt wird“, sagte Dirk Ruiss vom Verband der Ersatzkassen beim Telemedizinkongress in Berlin. „Vielleicht hilft es, den telemedizinischen Versorgungszweck noch etwas verbindlicher zu machen.“ Matthias Heidmeier, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen, hatte dafür offene Ohren: „Wir werden telemedizinische Angebote brauchen, und dazu müssen wir auch an einer besseren Finanzierungslogik arbeiten.“ 
 

Wie weiter, Telematikinfrastruktur? 

Neben der Telemedizin bleibt die Telematikinfrastruktur (TI) ein großes E-Health-politisches Themenfeld. Und da das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) der Hauptgesellschafter der gematik ist, ist jede Entscheidung in diesem Bereich immer auch Gesundheitspolitik. Jenseits der ePA muss es bei den anderen TI-Anwendungen vorangehen, beim TI-Messenger, bei den elektronischen Verordnungen und bei digitalen Versorgungsprozessen aller Art. Die gematik hat dazu eine neue Roadmap konzipiert, und sie will mehr Kompetenz in Sachen medizinischer Versorgung aufbauen, um besser auf Augenhöhe mit den Stakeholdern kommunizieren und entwickeln zu können. 

IT-Systeme öffnen, aber richtig

Eine unbeantwortete Frage in Sachen E-Health-Politik ist die nach den genauen Aufgaben der gematik. Diese sollten eigentlich im Gesundheits-Digitalagentur-Gesetz (GDAG) festgezurrt werden. Doch das fiel dem Ampel-Crash zum Opfer. Das BMG von Nina Warken wird hier handeln müssen – wie, ist unklar, steht nämlich nicht im Koalitionsvertrag. Durch das Kompetenzzentrum Interoperabilität im Gesundheitswesen (KIG) hat die „neue“ gematik schon einiges von dem vorweggenommen, was eine Digitalagentur leisten muss. „Als medatixx sehen wir das sehr positiv“, betont Jessica Birkmann. „Das ist mindestens ein Vorläufer einer guten Governance. Aber Rollen und Zuständigkeiten müssen jetzt auch gesetzlich noch mal klar definiert werden.“ 

Rollen und Zuständigkeiten, das betrifft nicht nur die gematik, sondern den gesamten regulatorischen Komplex, zu dem auch die KBV mit ihren umfassenden Zertifizierungsaufgaben im Bereich Praxis-IT sowie deren zwei Tochterunternehmen, die für strukturierte Datensätze in der ePA zuständige mio42 GmbH und die für ambulante innerärztliche Telematikanwendungen zuständige kv.digital GmbH, gehören. Wer macht was? Und wie wird sichergestellt, dass nicht an unterschiedlichen Stellen digitale Anwendungen vorangetrieben werden, die am Ende nicht zusammenpassen?

Ein Beispiel, das den Abstimmungsbedarf illustriert, ist das Thema Datenaustausch per Praxissoftware. Hier wurde vor Jahren eine Archiv- und Wechselschnittstelle (AWST) politisch initiiert und auch umgesetzt. Die politische Intention: Datenexport und -import aus der Praxis-IT sollten weniger komplex werden, auch um einen Wechsel der Praxis-IT zu vereinfachen. Tatsächlich war die AWST ein großer Reinfall – zum einen, weil sie nur etwa 60 Prozent aller Daten umfasste, die in der ambulanten Versorgung relevant sind, zum anderen, weil die Vorstellung naiv ist, dass der Wechsel einer Praxis-IT nichts anderes sei als der Wechsel von einem alten auf ein neues iPhone. Danach wurde beim Interop­Council der gematik ein Arbeitskreis ins Leben gerufen, der sich aus verschiedenen Expertinnen und Experten der Praxis-IT-Branche zusammensetzte. In einem gemeinsamen Papier wurde detailliert dargelegt, wie eine Wechselschnittstelle aussehen müsste, die funktioniert. Mit neuem gesetzlichen Auftrag soll jetzt eine neue Wechselschnittstelle – ohne Archiv! – umgesetzt werden, von der mio42 GmbH unter Aufsicht der gematik. Doch plötzlich gibt es Pläne, die Wechselschnittstelle in Richtung einer „Mehrwertschnittstelle“ zu erweitern, bei der keiner genau weiß, was das sein könnte. Kurz und gut: Es bedarf politischer Führung, damit etwas rauskommt, das die ambulante Versorgung weiterbringt – und keine neue Bürokratie produziert.
 

Weniger Bürokratie ertragen 

Stichwort Bürokratieabbau. Auch hier: „Steht doch im Koalitionsvertrag!“ Gibt natürlich auch niemanden, der das schlecht findet. Viel konkreter ist das Thema bisher aber noch nicht. Auch hier kam der Ampel-Crash dazwischen, ein Bürokratieentlastungsgesetz für das Gesundheitswesen blieb eine gute Idee, wurde aber nicht umgesetzt. So könnten Bereiche wie Smart Homecare, Physiotherapie und Pflege von einer erweiterten Abrechnungsmöglichkeit elektronisch signierter Dokumente nach § 302 SGB V deutlich profitieren. Eine konsequentere Durchsetzung elektronischer Leistungsnachweise würde vielerorts Medienbrüche beseitigen.

Mehr Forschung wagen 

Last but not least ist die Gesundheitsdatenforschung eines der größten Handlungsfelder digitaler Gesundheits- (und Forschungs-)politik. Hier wird im Koalitionsvertrag sogar ein Gesetz ganz konkret benannt, das Registergesetz. Bei den Registern geht es um eine bessere Auswertung von Daten aus der medizinischen Versorgung. Sie sollen dazu mit Abrechnungsdaten einerseits und ePA-Daten andererseits verknüpft werden, zugänglich gemacht über eine vertrauenswürdige Infrastruktur, bei der dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Schlüsselrolle zukommt. Mit Bezug auf die klinischen Krebsregister steht das so schon im Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Damit das in der ganzen Registerbreite funktioniert, werden allerdings die mehreren hundert klinischen Register in Deutschland fitter gemacht werden müssen – daher das Registergesetz. 

… und von Herrn Hecken 

Druck in Sachen digital hinterlegter Gesundheitsdatenforschung kommt aber auch noch von ganz anderer Seite, vom G-BA. Der muss sich mit dem Problem herumschlagen, dass immer mehr teure Arzneimittel bei Zulassung relativ wenig Evidenz mitbringen. Die gesundheitspolitische Idee war bisher, die Evidenz in solchen Fällen über sogenannte anwendungsbegleitende Datenerhebungen zu generieren. Das aber funktioniert hinten und vorne nicht, mit der Folge, dass die Kosten dieser Medikamente – es handelt sich vor allem um Medikamente für seltene Erkrankungen und um Onkologika – explodieren. 

Der G-BA-Vorsitzende Professor Josef Hecken würde dieses Problem gern mit – genau – Registern lösen, konkret einem „kollektiven Kohortenmodell“. Dabei würden Real-World-Register von spezialisierten Zentren weitgehend automatisch befüllt, und es gäbe prädefinierte Datenschnitte zu bestimmten Zeitpunkten mit einer ebenfalls weitgehend automatisierten Auswertung von Nutzen und Kosten. Klingt alles ziemlich digital. Da diese „Zentren“, ob bei Krebs oder seltenen Erkrankungen, in der Regel Netzwerke sind und regelmäßig auch Arztpraxen umfassen, wäre die ambulante Welt davon mitbetroffen. 

Fazit 

Mit ePA, neuer gematik und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz 1.0 hat die Ampelkoalition in Sachen E-Health-Politik Entwicklungen angestoßen, die langsam Früchte tragen. Die schwarz-rote Regierung kann darauf aufsetzen, und sie will das auch. Warten darf sie damit nicht beliebig lang.


Der Artikel erschien erstmals am 23. September 2025 im x.press 25.4. 

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