Visionen mit Hindernissen

Neuer Sommer, neues Gesetz: Mit dem Gesundheits-Digitalagentur-Gesetz (GDAG) komplettiert das Lauterbach-Ministerium seinen Gesetzesreigen in Sachen Digitalisierung. Deutschland bekommt eine Digitalagentur, wie andere Länder sie längst haben. „Mehr Staat“ bei der Softwareentwicklung wäre aber kontraproduktiv.

Von Phillip Grätzel

Wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach über seine Digitalisierungsgesetze redet, dann ist das oft mehr ein Schwärmen von der Zukunft als ein Sprechen über konkrete Gesetzesinhalte. Seine Vision ist ein Gesundheitssystem, in dem Daten genauso sicher wie problemlos kommunizierbar und automatisiert auswertbar sind, und in dem Patienten und Ärzte all jene topmodernen digitalen und mit künstlicher Intelligenz hinterlegten Anwendungen nutzen können, die sie in anderen Kontexten längst nutzen: „Alexa, mach schon mal das Röntgengerät an!“

Gestatten: der GDAG-Entwurf

Mit dem Entwurf des GDAG liegt der Plan für diese Renovierung jetzt vor. Die gematik soll in eine „Digitalagentur für Gesundheit“ überführt werden, wobei sich an der Eigentümerstruktur nichts ändern wird. Einst war die gematik eine gemeinsame Organisation der Selbstverwaltung. Seit Jens Spahn ist sie, wenn auch aus GKV-Mitteln finanziert, zu 51 Prozent in Bundeshand. Das soll auch so bleiben.

Was steht konkret drin im GDAG-Entwurf?

  • Zentraler Bestandteil des GDAG-Entwurfs sind die künftigen, deutlich erweiterten Aufgaben der neuen Digitalagentur. Die Digitalagentur soll erstens zentrale Komponenten und Dienste der Telematikinfrastruktur entwickeln und betreiben dürfen – denken Sie an den Verzeichnisdienst der TI. Zweitens soll sie Anwendungen spezifizieren, die von IT-Anbietern dann im Wettbewerb entwickelt werden – denken Sie an die KIM-Dienste. Und ­drittens soll sie, und das ist neu, in einem „kontrollierten Marktmodell“ einzelne Anwendungen ausschreiben und beschaffen dürfen. Auch an anderen Stellen soll die Digitalagentur als Marktteilnehmer agieren: Sie soll beispielsweise für öffentlich-rechtliche Stellen Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Telematikinfrastruktur erbringen dürfen.

  • Ein zweites Schwerpunktthema des GDAG ist die Interoperabilität. Hier erhält das schon mit dem DigiG etablierte Kompetenzzentrum für Interoperabilität im Gesundheitswesen (KIG) weitere Aufgaben. Wir kommen darauf noch zurück.

  • Die Digitalagentur soll künftig nicht nur Interoperabilitätsstandards definieren, die dafür sorgen, dass sich IT-Systeme im deutschen Gesundheitswesen besser „verstehen“, sie soll auch Standards festlegen dürfen, die auf mehr Nutzerfreundlichkeit zielen. Auch darauf kommen wir noch zurück.

  • Schließlich soll die Digitalagentur „als Partner“ bei der Digitalisierung von Versorgungsprozessen des Gesundheitswesens und der Pflege unterstützen. Hier geht es um Kommunikationsdienste wie KIM, den TI-Messenger (TIM) und weitere, die vielleicht noch kommen. Solche Kommunikationsdienste sollen künftig im Rahmen von zahlreichen Versorgungsprozessen genutzt werden, wobei dafür dann jeweils eine spezifische Zulassung durch die Digitalagentur nötig ist. Die Agentur erhält allein dafür drei neue Stellen.

Interview: "Sommer/Herbst 2025 kommt die große ePA-Welle"


Stefan Höcherl leitet die bei der gematik angesiedelte Koordinierungsstelle Interoperabilität und verantwortet aktuell deren Transformation in ein neues Kompetenzzentrum für Interoperabilität im Gesundheitswesen (KIG)

Hier geht's zum Interview.

Zwei Beispiele aus Babylon

Diese Vielfalt hat teilweise ihre Berechtigung, oft ist sie aber einfach nur ein Bremsklotz. Das Geschlecht etwa wird in unterschiedlichen Codierungssystemen unterschiedlich behandelt. So gibt es im KV-Datensatz fünf Ausprägungen von Geschlecht: männlich, weiblich, divers, unbekannt und unbestimmt. Im onkologischen Basisdatensatz, den viele ambulante und stationäre IT-Systeme bedienen sollen, fehlt die Ausprägung „unbestimmt“. Was tun, wenn die Daten eines „unbestimmten“ Patienten übertragen werden sollen? Fehlermeldung? Auch die Repräsentation auf Softwareebene ist im unglücklichsten Sinne des Wortes vielfältig: Mal werden Großbuchstaben wie M W oder D verwendet, mal Kleinbuchstaben, mal werden die Felder in Deutsch ausgeschrieben, mal in Englisch, mal mit Großbuchstaben am Anfang, mal nicht. Für einen Menschen eher ärgerlich als problematisch, eine Software jedoch steigt im Zweifelsfall einfach aus. 

Zweites Beispiel: Geburtsdatum. Angenommen, ich wurde am 30. Juli 1974 geboren. eRezept und MIOs benötigen diese Information im Format 1974-07-30, diverse Qualitätssicherungs-Anwendungen und auch die Berufsgenossenschaften hätten gerne 30.07.1974, und im KVDT-Datensatz ist das Geburtsdatum eine bizarre Zahlenkombination. Nicht einmal bei der Medikation ist Einheitlichkeit gewährleistet: Der bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP) und der Medikationsplan (eMP) der eGK sind IT-technisch nicht miteinander kompatibel – obwohl teilweise dieselben Leute an der Entwicklung beteiligt waren.

IT-Hersteller müssen besser eingebunden werden

In der Gesamtschau setzt das „Interoperabilitäts-Paket“ aus bereits in Kraft getretenem DigiG und bei Redaktionsschluss noch in Abstimmung befindlichem GDAG bei der Interoperabilität wichtige Akzente. Die weitere Stärkung des KIG wird nicht nur zu einheitlicheren Standards führen. Sie könnte perspektivisch auch dazu beitragen, die Zahl der Standards entwickelnden Organisationen – und damit auch den Arbeitsaufwand nicht zuletzt für die IT-Hersteller – zu verringern. 

Durchweg positiv gesehen wird in der Branche auch, dass die neue Digitalagentur künftig einmal im Jahr eine Roadmap vorlegen soll, die – so die Hoffnung – zu mehr Planungssicherheit führen könnte. Hier, wie an anderen Stellen, sieht die IT-Industrie allerdings noch Spielraum für eine bessere Einbindung der Unternehmen oder der Industrieverbände. Dass die Digitalagentur konsequent für Zulassung und Zertifizierung zuständig sein wird und damit hoheitliche Aufgaben übernimmt, erhält Beifall. Auszahlen könnte sich das bei den vereinfachten Authentifizierungsverfahren für die künftigen ePA-Apps, wo die Digitalagentur die nötigen Festlegungen treffen soll.

Es ist nicht alles Gesetzesgold, was glänzt 

Neben Lob gibt es aber auch eine Menge Kritik am GDAG-Entwurf. Die Praxis-IT-Branche reibt sich insbesondere an zwei Punkten. Zum einen sei es nicht Aufgabe einer Digitalagentur, selbst TI-Anwendungen zu entwickeln oder sie auszuschreiben – zumindest nicht in Bereichen, in denen es in Konkurrenz zueinanderstehende privatwirtschaftliche Unternehmen gibt, die diese Anwendungen entwickeln können. Dass solche „staatlichen“ Anwendungen dann auch noch beim Zulassungs- und Zertifizierungsverfahren Vorteile erhalten sollen oder dass auf diese Weise ein Marktakteur etabliert wird, der klare Interessenkonflikte hat, weil er sowohl Produkte entwickelt als auch diese Produkte zulässt und zertifiziert, dagegen gibt es bei den IT-Verbänden sogar verfassungsrechtliche Bedenken. 

Der zweite Hauptkritikpunkt der Industrie betrifft das Thema Nutzerfreundlichkeit. Hier soll die Digitalagentur künftig Vorgaben machen dürfen, ähnlich wie sie das bei der Interoperabilität tut. Dies wird von den Interessenvertretungen der Ärzteschaft teilweise ausdrücklich begrüßt, es erhält vonseiten der Industrie aber deutliche Kritik. So schreibt der bvitg in seiner Stellungnahme: „Es ist […] ein grundlegender Irrtum anzunehmen, dass die Digitalagentur die Nutzerfreundlichkeit von Komponenten, Diensten und Anwendungen besser einzuschätzen vermag als die Benutzer selbst. Es ist ein weiterer Irrtum anzunehmen, dass die persönlichen Anforderungen und Präferenzen der Benutzer so einheitlich sind, dass sie standardisiert werden können. Die aktuell anvisierte, gesetzliche Regelung [ist] deshalb […] kontraproduktiv.“

Die Krux wird auch hier die konkrete Ausgestaltung der Regelung sein. Dass es in Sachen Nutzerfreundlichkeit bei Praxis-IT-Systemen vielfach Verbesserungspotenzial gibt, bestreitet niemand. Die Frage ist eher, wie zielführend (womöglich verpflichtende) Vorgaben durch die Digitalagentur sind. Ein freiwilliges Incentivierungssystem mit transparenten, unabhängig definierten Usability-Kriterien sehen viele in der Branche eher positiv – sofern keine staatliche Stelle Detailvorgaben macht und Spielräume für die individuelle Umsetzung bleiben.     

Peter Struck lässt grüßen

Insgesamt gibt es so viel Kritik am GDAG-Entwurf, dass es noch zu einer Reihe relevanter Änderungen kommen dürfte, bevor das Gesetz dann irgendwann im Herbst ins Parlament geht. Es gilt das Strucksche Gesetz, benannt nach dem ehemaligen SPD-Parlamentarier Peter Struck, wonach kein Gesetz den Deutschen Bundestag so verlässt, wie es (als Regierungsentwurf) hineinkommt. Frei nach Element of Crime: Nichts ist so öde wie ein Sommer ohne kontroversen Gesetzentwurf.

Info

Digitalagentur für Gesundheit.

Passend zum Relaunch der gematik als Digitalagentur für Gesundheit werden ab September 2024 auch die vakanten Positionen in der gematik-Führung neu besetzt. Nach dem (nicht ganz freiwilligen) Abgang von Dr. Markus Leyck-Dieken Ende 2023 hatte der gematik-Veteran Dr. Florian Hartge die Interims-Geschäftsführung übernommen. Künftig wird die Digitalagentur nun von einem Triumvirat geführt. Vorsitzender der Geschäftsführung wird Dr. Florian Fuhrmann, ein alter Bekannter in der ambulanten IT-Szene – war er doch mehrere Jahre Geschäftsführer der kv.digital, der IT-Tochter der Kassenärztlichen ­Bundesvereinigung. 

Er kennt das Thema Praxis-IT aus dem Effeff und hat auch mit der digitalen Umsetzung des Terminservice oder der Rufnummer 116 117 auf sich aufmerksam gemacht. Ihm zur Seite steht einerseits weiterhin Dr. Florian Hartge, der die Bereiche Produktion, Sicherheit und Betrieb verantwortet. Als Dritte im Bunde komplettiert Brenya Adjei die Führungsetage. Sie wird zuständig sein für Personal, IT und Kommunikation. Adjei hat zuvor zahlreiche große Unternehmen zu Themen wie Kundenerlebnis, Transformation der Arbeitswelt und Produktstrategien beraten und war zuletzt Chief Customer Officer bei einem Sicherheitstechnologieanbieter. 


Der Artikel erschien erstmals am 16. September 2024 im x.press 24.4. 

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