Visionen mit Hindernissen

Von Phillip Grätzel
Wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach über seine Digitalisierungsgesetze redet, dann ist das oft mehr ein Schwärmen von der Zukunft als ein Sprechen über konkrete Gesetzesinhalte. Seine Vision ist ein Gesundheitssystem, in dem Daten genauso sicher wie problemlos kommunizierbar und automatisiert auswertbar sind, und in dem Patienten und Ärzte all jene topmodernen digitalen und mit künstlicher Intelligenz hinterlegten Anwendungen nutzen können, die sie in anderen Kontexten längst nutzen: „Alexa, mach schon mal das Röntgengerät an!“
Rückblende: Was bisher geschah
Das Problem mit Visionen ist, dass man erst mal hinkommen muss, und das spezielle Problem von Visionen im deutschen Gesundheitswesen ist, dass sie mit einem Tausende Seiten dicken Sozialgesetzbuch kompatibel sein müssen – oder das Tausende Seiten dicke Sozialgesetzbuch mit ihnen. Anders formuliert: Erst kommt das Gesetz, dann kommt der digitale Versorgungsspaß. Der Gesundheitsminister hat bei diesem Thema geliefert und praktisch alles umgesetzt, was im Koalitionsvertrag vorgesehen war.
Im x.press-Magazin haben wir für Sie diesen Schöpfungsprozess in den letzten zweieinhalb Jahren eng begleitet. Wir haben über das Digital-Gesetz (DigiG) informiert, das den Weg hin zur neuen elektronischen Patientenakte, zur „ePA für alle“, bahnt. Das DigiG – Ende März 2024 in Kraft getreten – macht auch die Abrechnung telemedizinischer Leistungen einfacher. Es will leistungsfähigere digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) und ermöglicht die Honorierung ärztlicher Leistungen im DiGA-Kontext.
Flankiert wurde das DigiG vom Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG), das ebenfalls Ende März in Kraft trat. Das GDNG ist in weiten Teilen ein Forschungsgesetz. Aber es erlaubt auch medizinischen Einrichtungen und Krankenkassen eine umfangreichere Nutzung der jeweils eigenen Daten, als das bisher der Fall war. Was noch fehlte, um den Koalitionsvertrag abzuarbeiten, war eine Generalrenovierung der gematik, also jener Organisation, die eRezept, KIM-Dienst, kurz die gesamte Telematikinfrastruktur koordiniert und die auch bei der Einführung der ePA die Federführung hat.
Gestatten: der GDAG-Entwurf
Mit dem Entwurf des GDAG liegt der Plan für diese Renovierung jetzt vor. Die gematik soll in eine „Digitalagentur für Gesundheit“ überführt werden, wobei sich an der Eigentümerstruktur nichts ändern wird. Einst war die gematik eine gemeinsame Organisation der Selbstverwaltung. Seit Jens Spahn ist sie, wenn auch aus GKV-Mitteln finanziert, zu 51 Prozent in Bundeshand. Das soll auch so bleiben.
Was steht konkret drin im GDAG-Entwurf?
Zentraler Bestandteil des GDAG-Entwurfs sind die künftigen, deutlich erweiterten Aufgaben der neuen Digitalagentur. Die Digitalagentur soll erstens zentrale Komponenten und Dienste der Telematikinfrastruktur entwickeln und betreiben dürfen – denken Sie an den Verzeichnisdienst der TI. Zweitens soll sie Anwendungen spezifizieren, die von IT-Anbietern dann im Wettbewerb entwickelt werden – denken Sie an die KIM-Dienste. Und drittens soll sie, und das ist neu, in einem „kontrollierten Marktmodell“ einzelne Anwendungen ausschreiben und beschaffen dürfen. Auch an anderen Stellen soll die Digitalagentur als Marktteilnehmer agieren: Sie soll beispielsweise für öffentlich-rechtliche Stellen Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Telematikinfrastruktur erbringen dürfen.
Ein zweites Schwerpunktthema des GDAG ist die Interoperabilität. Hier erhält das schon mit dem DigiG etablierte Kompetenzzentrum für Interoperabilität im Gesundheitswesen (KIG) weitere Aufgaben. Wir kommen darauf noch zurück.
Die Digitalagentur soll künftig nicht nur Interoperabilitätsstandards definieren, die dafür sorgen, dass sich IT-Systeme im deutschen Gesundheitswesen besser „verstehen“, sie soll auch Standards festlegen dürfen, die auf mehr Nutzerfreundlichkeit zielen. Auch darauf kommen wir noch zurück.
Schließlich soll die Digitalagentur „als Partner“ bei der Digitalisierung von Versorgungsprozessen des Gesundheitswesens und der Pflege unterstützen. Hier geht es um Kommunikationsdienste wie KIM, den TI-Messenger (TIM) und weitere, die vielleicht noch kommen. Solche Kommunikationsdienste sollen künftig im Rahmen von zahlreichen Versorgungsprozessen genutzt werden, wobei dafür dann jeweils eine spezifische Zulassung durch die Digitalagentur nötig ist. Die Agentur erhält allein dafür drei neue Stellen.
Interview: "Sommer/Herbst 2025 kommt die große ePA-Welle"
Stefan Höcherl leitet die bei der gematik angesiedelte Koordinierungsstelle Interoperabilität und verantwortet aktuell deren Transformation in ein neues Kompetenzzentrum für Interoperabilität im Gesundheitswesen (KIG)
Weniger Durcheinander im Standards-Zoo
Aus Sicht der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte liegt die Relevanz des GDAG nicht zuletzt in den Regelungen zur Verbesserung der Interoperabilität. Hier besteht seit Jahren Handlungsbedarf, der auch jedem bewusst ist. Jens Naumann, Geschäftsführer von medatixx, fasst die Probleme kurz und knapp so zusammen: „Unser Problem im deutschen Gesundheitswesen sind nicht zu wenige Standards, sondern zu viele.“
Kostprobe gefällig? Im KV-System sind seit mittlerweile Jahrzehnten xDT-Standards im Einsatz, die ambulante Behandlungs-, Labor- und Diagnosedaten codieren und die unter anderem für die Abrechnung genutzt werden. Bei privatärztlichen Verrechnungsstellen gibt es die PAD-Standardfamilie, die ebenfalls Behandlungsdaten codiert. Im Krankenhausumfeld und teilweise auch im MVZ-Bereich ist HL7 omnipräsent, wovon es wiederum diverse Iterationen gibt. Es wird ergänzt durch die von der bisherigen gematik festgelegten ISiK-Standards, die auf einen besseren, insbesondere sektoren-, aber auch anwendungsübergreifenden Datenaustausch zielen. Es gibt FHIR, einen von HL7 neu entwickelten Datenübertragungsstandard, sowie auf spezifische Versorgungskontexte fokussierte, bisher so gut wie nicht genutzte Medizinische Informationsobjekte (MIO) der KBV, die eine Kernkomponente der ePA werden sollen. Im Rahmen der Medizininformatik-Initiative und mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) werden außerdem forschungsassoziierte Standards entwickelt. Die Liste ließe sich noch um einiges verlängern.

Zwei Beispiele aus Babylon
Diese Vielfalt hat teilweise ihre Berechtigung, oft ist sie aber einfach nur ein Bremsklotz. Das Geschlecht etwa wird in unterschiedlichen Codierungssystemen unterschiedlich behandelt. So gibt es im KV-Datensatz fünf Ausprägungen von Geschlecht: männlich, weiblich, divers, unbekannt und unbestimmt. Im onkologischen Basisdatensatz, den viele ambulante und stationäre IT-Systeme bedienen sollen, fehlt die Ausprägung „unbestimmt“. Was tun, wenn die Daten eines „unbestimmten“ Patienten übertragen werden sollen? Fehlermeldung? Auch die Repräsentation auf Softwareebene ist im unglücklichsten Sinne des Wortes vielfältig: Mal werden Großbuchstaben wie M W oder D verwendet, mal Kleinbuchstaben, mal werden die Felder in Deutsch ausgeschrieben, mal in Englisch, mal mit Großbuchstaben am Anfang, mal nicht. Für einen Menschen eher ärgerlich als problematisch, eine Software jedoch steigt im Zweifelsfall einfach aus.
Zweites Beispiel: Geburtsdatum. Angenommen, ich wurde am 30. Juli 1974 geboren. eRezept und MIOs benötigen diese Information im Format 1974-07-30, diverse Qualitätssicherungs-Anwendungen und auch die Berufsgenossenschaften hätten gerne 30.07.1974, und im KVDT-Datensatz ist das Geburtsdatum eine bizarre Zahlenkombination. Nicht einmal bei der Medikation ist Einheitlichkeit gewährleistet: Der bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP) und der Medikationsplan (eMP) der eGK sind IT-technisch nicht miteinander kompatibel – obwohl teilweise dieselben Leute an der Entwicklung beteiligt waren.
Interoperabilität soll besser werden
Dass sich diese Zustände in einem digitalen Gesundheitswesen, das diesen Namen verdient, ändern müssen, ist ziemlich offensichtlich: „IT-Standards werden von einigen Akteuren des Gesundheitswesens immer noch dafür genutzt, Claims abzustecken. Oft wird auch einfach nicht genug nachgedacht“, so Naumann. „Was wir brauchen, sind einheitliche, konsolidierte, harmonisierte Datenstandards auf internationaler Basis.“
Mit seiner neuen Digitalagentur will der Gesetzgeber das erreichen, genauer mit dem KIG, das eine ganze Reihe von Aufgaben und Rechten erhält, die die geschilderte babylonische Vielfalt schrittweise eindämmen sollen. Das KIG wurde bereits mit dem DigiG etabliert, es soll jetzt mit dem GDNG nochmals mehr Kompetenzen erhalten. Die grundsätzliche Stärkung des KIG wird in der Branche auf breiter Front begrüßt: „Zentralisierung und Standardisierung sind notwendige Vorgaben für einen einheitlichen Markt, in dem der Wettbewerb die Spielräume für den Fortschritt ausschöpfen kann“, schreibt etwa der IT-Verband bvitg. Und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) betont: „Der Abbau der aktuell erkennbaren Defizite in der Interoperabilität […] ist [entscheidend] für den weiteren Erfolg der Digitalisierung und der ePA für alle.“
Seine Feuertaufe erleben wird das KIG bei ebendieser ePA für alle. Die Digitalagentur darf für die ePA-Standards Qualitätskriterien festlegen und deren Umsetzung, zum Beispiel in der Praxis-IT, im Rahmen der sogenannten Konformitätsbewertung überprüfen. Letztlich soll das Zertifikat der Konformitätsbewertung zu einer notwendigen Grundlage für eine Erstattung im GKV-System werden. Das ist ein mächtiges Schwert, das durchaus zu mehr Harmonisierung führen könnte – weniger wegen der damit verbundenen Drohung als vielmehr deswegen, weil künftig sämtliche relevanten Standards die Digitalagentur „passieren“ müssen. Es wird also eine Stelle geben, die darauf achten kann und muss, dass alles zusammenpasst. Die fehlt bisher.
IT-Hersteller müssen besser eingebunden werden
In der Gesamtschau setzt das „Interoperabilitäts-Paket“ aus bereits in Kraft getretenem DigiG und bei Redaktionsschluss noch in Abstimmung befindlichem GDAG bei der Interoperabilität wichtige Akzente. Die weitere Stärkung des KIG wird nicht nur zu einheitlicheren Standards führen. Sie könnte perspektivisch auch dazu beitragen, die Zahl der Standards entwickelnden Organisationen – und damit auch den Arbeitsaufwand nicht zuletzt für die IT-Hersteller – zu verringern.
Durchweg positiv gesehen wird in der Branche auch, dass die neue Digitalagentur künftig einmal im Jahr eine Roadmap vorlegen soll, die – so die Hoffnung – zu mehr Planungssicherheit führen könnte. Hier, wie an anderen Stellen, sieht die IT-Industrie allerdings noch Spielraum für eine bessere Einbindung der Unternehmen oder der Industrieverbände. Dass die Digitalagentur konsequent für Zulassung und Zertifizierung zuständig sein wird und damit hoheitliche Aufgaben übernimmt, erhält Beifall. Auszahlen könnte sich das bei den vereinfachten Authentifizierungsverfahren für die künftigen ePA-Apps, wo die Digitalagentur die nötigen Festlegungen treffen soll.

Es ist nicht alles Gesetzesgold, was glänzt
Neben Lob gibt es aber auch eine Menge Kritik am GDAG-Entwurf. Die Praxis-IT-Branche reibt sich insbesondere an zwei Punkten. Zum einen sei es nicht Aufgabe einer Digitalagentur, selbst TI-Anwendungen zu entwickeln oder sie auszuschreiben – zumindest nicht in Bereichen, in denen es in Konkurrenz zueinanderstehende privatwirtschaftliche Unternehmen gibt, die diese Anwendungen entwickeln können. Dass solche „staatlichen“ Anwendungen dann auch noch beim Zulassungs- und Zertifizierungsverfahren Vorteile erhalten sollen oder dass auf diese Weise ein Marktakteur etabliert wird, der klare Interessenkonflikte hat, weil er sowohl Produkte entwickelt als auch diese Produkte zulässt und zertifiziert, dagegen gibt es bei den IT-Verbänden sogar verfassungsrechtliche Bedenken.
Der zweite Hauptkritikpunkt der Industrie betrifft das Thema Nutzerfreundlichkeit. Hier soll die Digitalagentur künftig Vorgaben machen dürfen, ähnlich wie sie das bei der Interoperabilität tut. Dies wird von den Interessenvertretungen der Ärzteschaft teilweise ausdrücklich begrüßt, es erhält vonseiten der Industrie aber deutliche Kritik. So schreibt der bvitg in seiner Stellungnahme: „Es ist […] ein grundlegender Irrtum anzunehmen, dass die Digitalagentur die Nutzerfreundlichkeit von Komponenten, Diensten und Anwendungen besser einzuschätzen vermag als die Benutzer selbst. Es ist ein weiterer Irrtum anzunehmen, dass die persönlichen Anforderungen und Präferenzen der Benutzer so einheitlich sind, dass sie standardisiert werden können. Die aktuell anvisierte, gesetzliche Regelung [ist] deshalb […] kontraproduktiv.“
Die Krux wird auch hier die konkrete Ausgestaltung der Regelung sein. Dass es in Sachen Nutzerfreundlichkeit bei Praxis-IT-Systemen vielfach Verbesserungspotenzial gibt, bestreitet niemand. Die Frage ist eher, wie zielführend (womöglich verpflichtende) Vorgaben durch die Digitalagentur sind. Ein freiwilliges Incentivierungssystem mit transparenten, unabhängig definierten Usability-Kriterien sehen viele in der Branche eher positiv – sofern keine staatliche Stelle Detailvorgaben macht und Spielräume für die individuelle Umsetzung bleiben.
Peter Struck lässt grüßen
Insgesamt gibt es so viel Kritik am GDAG-Entwurf, dass es noch zu einer Reihe relevanter Änderungen kommen dürfte, bevor das Gesetz dann irgendwann im Herbst ins Parlament geht. Es gilt das Strucksche Gesetz, benannt nach dem ehemaligen SPD-Parlamentarier Peter Struck, wonach kein Gesetz den Deutschen Bundestag so verlässt, wie es (als Regierungsentwurf) hineinkommt. Frei nach Element of Crime: Nichts ist so öde wie ein Sommer ohne kontroversen Gesetzentwurf.
Info
Digitalagentur für Gesundheit.
Passend zum Relaunch der gematik als Digitalagentur für Gesundheit werden ab September 2024 auch die vakanten Positionen in der gematik-Führung neu besetzt. Nach dem (nicht ganz freiwilligen) Abgang von Dr. Markus Leyck-Dieken Ende 2023 hatte der gematik-Veteran Dr. Florian Hartge die Interims-Geschäftsführung übernommen. Künftig wird die Digitalagentur nun von einem Triumvirat geführt. Vorsitzender der Geschäftsführung wird Dr. Florian Fuhrmann, ein alter Bekannter in der ambulanten IT-Szene – war er doch mehrere Jahre Geschäftsführer der kv.digital, der IT-Tochter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
Er kennt das Thema Praxis-IT aus dem Effeff und hat auch mit der digitalen Umsetzung des Terminservice oder der Rufnummer 116 117 auf sich aufmerksam gemacht. Ihm zur Seite steht einerseits weiterhin Dr. Florian Hartge, der die Bereiche Produktion, Sicherheit und Betrieb verantwortet. Als Dritte im Bunde komplettiert Brenya Adjei die Führungsetage. Sie wird zuständig sein für Personal, IT und Kommunikation. Adjei hat zuvor zahlreiche große Unternehmen zu Themen wie Kundenerlebnis, Transformation der Arbeitswelt und Produktstrategien beraten und war zuletzt Chief Customer Officer bei einem Sicherheitstechnologieanbieter.
Der Artikel erschien erstmals am 16. September 2024 im x.press 24.4.